Mit etwas Verzögerung hat die Europäische Kommission Ende Jänner in Brüssel ihren angekündigten Kompass für Wettbewerbsfähigkeit präsentiert. Das Papierbasiert, ähnlich wie die politischen Leitlinien für die neue Amtszeit, auf den Analysen und Empfehlungen des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi. Dessen Bericht identifiziert zur Steigerung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit drei zentrale Transformationsimperative: Die Schließung der Innovationslücke, die Bedeutung einer gemeinsamen Bewältigung von Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit sowie den Abbau übermäßiger Abhängigkeiten zurErhöhung von Sicherheit und Resilienz. Entlang dieser richtungsweisenden Zielgrößen beschreibt der Wettbewerbskompass eine Reihe konkreter Maßnahmen.
Um deren zeitnahe und umfassende Wirksamkeit sicherzustellen, plant die Kommission zusätzlich flankierende Aktivitäten in den Bereichen Deregulierung und Bürokratieabbau.Die Koordinierung der Politik auf EU- und nationaler Ebene soll deutlich verbessert werden, um Flexibilität und Tempo zu erhöhen. Es ist weiters geplant, die vollen Potenziale des Binnenmarktes auszuschöpfen, das EU-Budget neu auszurichten und die Finanzierung durch eine Spar- und Investitionsunion bereitzustellen. Hochwertige Arbeitsplätze und angemessene Qualifizierungsangebote werden bestenfalls pro forma als Bestandteile einer wettbewerbsfähigenWirtschaft angeführt. Bei sorgfältiger Lektüre wird deutlich: KonkreteVorschläge zum Wohle der Arbeitnehmer:innen, etwa im Kontext des doppelten Wandels,sucht man vergebens.
Sozial ausgewogen? –Fehlanzeige!
Es wurde sogar darauf verzichtet, die Gewährung finanzieller Mittel an soziale Bedingungen, etwa dieSchaffung von Arbeitsplätzen, zu knüpfen. Weitere problematische Punkte sind aus Sicht der Beschäftigten die Forderung nach Pensionsreformen auf derGrundlage einer längeren Lebensarbeitszeit oder der Vorschlag für das 28.Unternehmensregime: Dieser würde es einigen Unternehmen ermöglichen, außerhalb des nationalen Arbeitsrechts zu operieren – was die Arbeitsgesetzgebung in ganzEuropa untergraben könnte.
DieNotwendigkeit einer umfassenden europäischen Industriepolitik steht für alle Sozialpartner und Stakeholder außer Zweifel, ist die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft aus gewerkschaftlicher Perspektive doch naturgemäß eineSchlüsselfrage. Die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in wettbewerbsfähigen Unternehmen ist die Grundlage des europäischen Sozialmodells und individueller Sicherheiten. Die Hebel zur wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit liegen jedoch nicht in der Beschneidung von Arbeits- undSozialrechten. Eine nachhaltige und gerechte Wettbewerbsstrategie sieht anders aus.