Die Zahl autoritärer Staaten wächst. Laut dem Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung gab es im Vorjahr unter 137 untersuchten Entwicklungs- und Schwellenländern nur noch 63 Demokratien, während 73 Länder als Autokratien eingestuft wurden. Die Studie stellt fest: „Zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen zwanzig Jahren wurden so wenige Staaten demokratisch regiert wie heute.“ Eine der wichtigsten – und oft letzten – Verteidigungslinien gegen den Autoritarismus sei die Widerstandskraft der demokratischen Zivilgesellschaft, betonen die Studienautor:innen.

Wenn Demokratien schwächeln, hat das nicht nur Auswirkungen auf politische Freiheiten und bürgerliche Rechte – auch die Arbeitswelt gerät ins Visier. Gewerkschaften, traditionell eine Bastion der Arbeitnehmer:innenrechte, stehen in Ländern mit autoritären Regierungen vor großen Herausforderungen. Arbeit&Wirtschaft wirft einen Blick auf Ungarn – ein Land, in dem die Politik Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innen bereits unter Druck setzt. Hier wird aber auch gezeigt, dass Widerstand wichtig und möglich ist.

Eine geschwächte Gewerkschaft in Ungarn

Ungarn steht exemplarisch für die strategische Schwächung von Gewerkschaften. Seit 2010 ist Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Fidesz-Partei nahezu ununterbrochen an der Macht. Eine Zweidrittelmehrheit im Parlament ermöglichte Orbán tiefgreifende Reformen in nahezu allen Bereichen – auch in der Arbeitswelt.

Bence Havas weiß, wie es ist, in einem Land zu leben, in dem die Politik Gewerkschaften und Arbeitnehmer:innen immer mehr unter Druck setzt. | © Privat

„Für Orbáns Regierung sind Gewerkschaftsrechte und Arbeitnehmer:innenschutz lediglich Kostenfaktoren, die reduziert werden müssen“, sagt Bence Havas, internationaler Sekretär des Gewerkschaftsbundes Magyar Szakszervezeti Szövetség (MASZSZ), der mit rund 100.000 Mitgliedern einer der größten Gewerkschaftsbünde in Ungarn ist. Orbáns Politik verfolge vor allem ein Ziel: Ungarn für ausländische Investor:innen attraktiv zu machen. Die Strategie? Niedrige Löhne, minimale Schutzstandards und eine der niedrigsten Unternehmenssteuern in der EU.

Wir müssen die Menschen mobilisieren
und sie davon überzeugen, dass die
Gewerkschaft das einzige Mittel ist,
um Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Bence Havas, Gewerkschaftssekretär in Ungarn

Ein großer Schritt in diese Richtung war die Arbeitsrechtsreform von 2012. Seitdem besteht eines der flexibelsten Arbeitszeitmodelle Europas. Das Streikrecht wurde stark eingeschränkt, sodass es de facto kaum noch möglich ist, Streiks durchzuführen. Ein extremes Beispiel ereignete sich 2019: Gewerkschaften im sozialen Sektor hatten einen eintägigen Streik geplant, doch Einsprüche der Arbeitgeber:innen führten zu einem 486 Tage dauernden Genehmigungsverfahren. Als es abgeschlossen war, war der geplante Streik längst hinfällig. „So wird das schärfste Instrument der Arbeitnehmer:innenvertretung bewusst geschwächt“, betont Havas.

Ein weiterer Schlag war das sogenannte „Sklavengesetz“ von 2018, das die Flexibilität der Arbeitszeit noch weiter ausdehnte und es Arbeitgeber:innen erlaubt, Überstunden individuell auszuhandeln. Die jährliche Überstundenobergrenze stieg von 250 auf 400 Stunden, und Unternehmen dürfen sich bis zu drei Jahre Zeit lassen, sie zu vergüten. Pflichtschulungen zum Arbeitnehmer:innenschutz wurden abgeschafft. Es reicht nun, wenn Arbeitgeber:innen die Liste der Schutzvorschriften per E-Mail durchschicken.

Der Kampf um Mitbestimmung

Die Regierung in Ungarn schränkte zudem den sozialen Dialog zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeber:innen stark ein. Entscheidungen wie die Festlegung des Mindestlohns trifft heute allein die Regierung. „Wir werden bestenfalls über Pläne informiert, aber unsere Meinung wird kaum berücksichtigt“, kritisiert Havas.

Zumindest im privaten Sektor und auf lokaler Ebene gelinge es den Gewerkschaften aber noch, Kollektivverträge auszuhandeln, so Havas. Mit westeuropäischen Konzernen, vor allem deutschen Unternehmen, funktioniere die Zusammenarbeit meist gut. Doch die Krise der deutschen Automobilindustrie könnte auch das ändern.

Die jüngste Maßnahme der ungarischen Regierung, die 2024 in Kraft trat, verschärfte die Lage weiter: Gewerkschaftsbeiträge im öffentlichen Sektor werden nicht mehr automatisch von dem:der Arbeitgeber:in abgezogen, sondern müssen direkt von den Arbeitnehmer:innen überwiesen werden. „Gewerkschaften verlieren dadurch Mitglieder“, warnt Havas.

Trotzdem gibt sich der Gewerkschafter kämpferisch: „Wir müssen die Menschen mobilisieren und sie davon überzeugen, dass die Gewerkschaft das einzige Mittel ist, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.“ Die Frustration sei hoch, man müsse sie nun in gewerkschaftliches Engagement umwandeln.

Originaltext aus https://www.arbeit-wirtschaft.at/ungarn-arbeitsrechte-unter-beschuss-demokratie-mitbestimmung/